Ashtanga Yoga Mantra – Hintergründe

Alle Hintergründe zum Ashtanga Yoga Mantra. Übersetzung des Ashtanga Yoga Mantras. Historische und metrische Analyse des Ashtanga Yoga Mantra. Mit dem Ashtanga Yoga Mantra beginnt für alle Ashtangi*ni*s die Yogapraxis. Dieser Artikel widmit sich der Bedeutung und dem Hintergrund des Ashtanga Yoga Mantras.

Das Ashtanga Yoga Mantra wird vor jeder Praxis rezitiert. Es dient dazu den Praktizierenden daran zu erinnern, worum es im ursprünglichen Yoga wirklich geht, nämlich um Selbsterkenntnis. Die Erkenntis der eigenen Seele, des Wesenskerns, des dem Leben innewohnenden reinen Bewusstseins (Skt. puruṣa oder ātman). Dieses Bewusstsein liegt jenseits der materiellen Erscheinungen dieser Welt. Es gilt als die Ebene auf der die Lebewesen mit dem lebendigen Universum eins sind. Der spezifische Weg zu der Erfahrung der Einheit und der Aufhebung der Illusion der Trennung wird seit mindestens 2600 Jahren von den altehrwürdigen Lehrmeistern der Vergangenheit in einer ununterbrochenen Traditionslinie bis zum heutigen Tage konserviert. Der erste Vers dient dazu sich dieser langen Traditionslinie bewusst zu werden und sich dankend für dieses Wissen zu öffnen. Gleichzeitig erschafft die Wiederholung dieses Mantras vor jeder Praxis einen klaren Rahmen. Den Raum der Ashtanga Yoga Praxis. Natürlich gibt es viele Mantras, die wunderschön klingen und sehr vielfältig sind. Aber die Wiederholung von nur diesem einen Mantra konditioniert unseren Geist auf die Ashtanga Yoga Praxis, die vor dem Übenden liegt. Mit dem Ashtanga Yoga Mantra können sich Geist und Körper in kürzester Zeit auf die Anforderungen der Ashtanga Yoga Praxis einstellen. Das Mantra hat insgesamt zwei Teile. Sie stammen aus unterschiedlichen Sanskrit Texten. Auch haben sie jeweils ein unterschiedliches Metrum. Der erste Teil des Mantras stammt von Śaṅkarācharya. Es ist der erste Vers aus seinem Werk Yogatārāvallī. Der Ursprung des zweiten Teils des Mantras ist unklar. Er findet sich nur in der Traditionslinie von Krishnamacharya. Beschreibungen von Ananta bzw. Śeṣa, der Weltenschlange, von der man sagt, dass Patañjali eine Inkarnation von ihr ist, finden sich in ähnlichem Wortlaut z.B. in der Śrīmad Bhāgavatam und dem Kūrmapurāṇa.

वन्दे गुरूणां चरणारविन्दे संदर्शितस्वात्मसुखावबोधे ।

निःश्रेयसे जाङ्गलिकायमाणे संसारहालाहलमोहशान्त्यै ॥

vande gurūṇāṁ caraṇāravinde saṁdarśita-svātma-sukhāvabodhe |

niḥśreyase jāṅgalikāyamāṇe saṁsāra-hālāhala-moha-śāntyai ||


Metrum namens Indravajrā (zu dt. der Donnerkeil Indras):

G = guru = schwer = lang ausgesprochene Silbe
L = laghu = leicht = kurz ausgesprochene Silbe 

erste Zeile: GGLGGLLGLGGGGLGGLLGLGG (22 syllables, 36 mātras) erste Hälfte von Indravajrā
zweite Zeile: GGLGGLLGLGGGGLGGLLGLGG (22 syllables, 36 mātras) andere Hälfte von Indravajrā

oṃ, Urton des Universums; vande, ich verneige mich; gurūṇāṁ, der Lehrmeister; caraṇāravinde, vor den Lotusfüßen; saṃdarśita, vollständig gezeigt; svātma, eigener Wesenskern/Seele/Selbst; sukha, freudvoll, glücksspendend, einfach; avabodhe, Erkenntnis; niḥśreyase, unübertroffen; jāṅgalikāyamāṇe, weil wie ein Arzt seiend; saṁsāra, Weltengang; hālāhala, besonders starkes Gift; moha, Illusion; śāntyai, zur Heilung;

Übersetzung:

Ich verneige mich (ehrfurchtsvoll) vor den Lotusfüßen der Lehrmeister, weil sie die freudvolle Erkenntnis der eigenen Seele vollständig enthüllen. Denn sie sind wie der beste Arzt für die Heilung der Illusion (der Trennung des Individuums vom lebendigen Universum), dem stärksten dem Weltengang innewohnenden Gifts.


आबाहुपुरुषाकारं शङ्खचक्रासिधारिणम् ।

हस्रशिरसं श्वेतं प्रणमामि पतञ्जलिम् ॥

ābāhu-puruṣākāraṁ śaṅkha-cakrāsi-dhāriṇam ।

sahasra-śirasaṁ śvetaṁ praṇamāmi patañjalim ॥


Metrum namens Anuṣṭubh (zu dt. Gesang): 
G = guru = schwer = lang ausgesprochene Silbe 
L = laghu = leicht = kurz ausgesprochene Silbe 

erste  Zeile: GGLLLGGGGLGGLGLG (16 syllables, 26 mātras) erste Hälfte von Anuṣṭubh (Śloka)
zweite Zeile: LGLLLGGGLLGLLGLL (16 syllables, 22 mātras) zweite Hälfte von Anuṣṭubh (Śloka)

ābāhu, bis zu den Armen; puruṣākāraṁ, menschlicher Gestalt; śaṅkha, Muschelhorn; cakra, Diskus, asi, Schwert, dhāriṇam, tragend; sahasra, tausend; śirasaṁ, Köpfe; śvetaṁ, strahlend; praṇamāmi, ich verneige mich (ehrfurchtsvoll), patañjalim, vor Patañjali;


Übersetzung:

Vor ihm, der bis zu dem Armen von menschlicher Gestalt ist, und Muschelhorn, Diskus und Schwert trägt, vor dem, der mit 1000 strahlenden Köpfen versehen ist, vor Patañjali verneige ich mich (ehrfurchtsvoll).

Wer war eigentlich Patañjali?

Viel über das Leben des Patañjali weiß man nicht. In der indischen Mythologie gilt Patañjali als Inkarnation der Weltenschlange. Auf Sanskrit ist von Ananta (zu dt. „die Unendliche“) die Rede. Die Darstellungen von Patañjali zeigen ihn meist als halb Mensch halb SchlangeAnanta ist der König der Schlangenwesen, der sog. Nāga. Sie werden auch heute noch, vor allem im sog. Dorfhinduismus verehrt. Das Bild der 1000 scheinenden Köpfe findet sich oft in der Symbolik verschiedener Gottheiten in hinduistischen Glaubenssystemen. Im Fall von Patañjali steht es für den vollständig erwachten, omnipräsenten Yogi, der vollständig in der göttlichen Einheit gegründet ist und durch den unendlich-universellen Geist sieht. Einer der Hauptziele des Ashtanga Yoga Mantra ist es sich Patañjalis bedeutung gewahr zu werden.

Das Muschelhorn symbolisiert den universellen Klang, den oṃ-Urton aus dem der indischen Mythologie zufolge alles entstand. Die Symbolik des Diskus verweist auf die alles zerstörende Zeit, die durch Patañjalis Yogalehre überwunden wird.  Das Schwert, obwohl in vielen Darstellungen, wie in unserem Beispiel hier nicht abgebildet, symbolisiert die Unterscheidungskraft. Denn nur durch diese Kraft ist es dem Yogin möglich das höchste Ziel der Lehre zu erreichen: die Unterscheidung von dem vergänglichen Reich der Materie (Außenwelt, Körper und Geist) und dem unvergänglichen innewohnenden Wesenskern, dem reinen Bewusstsein.

Patañjali gilt als der Autor des Pātañjalayogaśāstra aka. Yogasūtra. Dieser Text wurde irgendwann zwischen 200 v. und 200 n. u. Z. verfasst und gilt als erstes vollständig systematisches Kompendium der Yogalehre, die zuvor wesentlich weniger systematisch in noch älteren Texten (wie z.B. Kaṭha-Upaniṣad, Śvetāśvatara Upaniṣad, Bhagavadgītā etc.) niedergeschrieben wurde. Dieser Text ist ein Leitfaden, der in 195 Aphorismen einen klaren und auch heute noch nachvollziehbaren Weg zur vollständigen Freiheit (kaivalya) durch meditative Praxis aufzeigt. Zugleich wird die Methode zur Erlangung verschiedener übernatürlicher Fähigkeiten gelehrt. Am Ende der achtgliedriegen Yogapraxis (Aṣṭāṅga Yoga) steht der vollständig veredelte Mensch.